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Hans Wittwer nach den Erinnerungen seines Sohnes Kaspar Wittwer

Vor ein paar Jahren wurden wir, die Nachkommen von Hans Wittwer vom gta, dem Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, eingeladen, um die Frage nach dem Copyright der Arbeiten unseres Vorfahren neu zu regeln. Bruno Maurer, der Leiter des Instituts, nutzte die Gelegenheit, um uns auch den beim gta lagernden Nachlass von Hans Wittwer zu zeigen. Während wir den Ausführungen des Institutsleiters und seiner Mitarbeiter zuhörten, studierte mein Vater, Kaspar Wittwer, die Pläne des Restaurants, das sein Vater seinerzeit für den Flughafen von Halle-Leipzig entworfen und gebaut hatte. Kaspar Wittwer war 1930 als erster der drei Söhne von Hans Wittwer in Halle auf die Welt gekommen und er war noch nicht ganz vier Jahre alt, als die junge Familie nach Basel zurückkehrte. Hans Wittwer hatte seine Stelle als Lehrer der Kunstgewerbeschule Halle an der Burg Giebichenstein verloren und gegen die Fortsetzung der von ihm stammenden Pläne für den Flughafen von Halle-Leipzig hatte sich entschiedener Widerstand formiert. Als wir nach dem Besuch des gta mit der Eisenbahn von Zürich nach Basel zurückfuhren, erzählte mir mein Vater, dass sein Vater ihm die Pläne, die er in Halle für das Flughafen-Restaurant gezeichnet hatte, manchmal erläutert habe. An Sonntagen, erinnerte er sich, stiegen sie die Treppe zum Dachboden hinauf, wo sich Hans Wittwer eine Art Büro eingerichtet hatte. Dort stand ein hoher Schrank, der allerlei Unterlagen aus früheren Jahren enthielt, unter anderem auch die Pläne zum Flughafen-Restaurant von Halle. Dieser Schrank wurde nun geöffnet, die darin untergebrachten Pläne hervorgezogen und ausgebreitet. Sein Vater habe ihm erklärt, was ein Plan sei und wozu er diene, was die Linien auf dem Papier bedeuteten und schliesslich auch, wie er zu den von ihm getroffenen architektonischen Lösungen gekommen sei. "Schau’ mal", habe ihm sein Vater immer wieder gesagt, "das habe ich aus diesem Grund so und so gemacht". Dieses gemeinsame Betrachten alter Entwürfe und Pläne wurde nach und nach seltener und hörte schliesslich ganz auf. Ihr Ende fand es wahrscheinlich nach 1945, als Hans Wittwer erfuhr, dass das Flughafen-Restaurant im Krieg zerstört worden war. Es muss ein schlimmer Schlag für den nun doch bereits Fünfzigjährigen gewesen sein, dass der Bau, den er einmal als seine Visitenkarte bezeichnet hatte und mit dem er seine Karriere als selbständiger Architekt hätte begründen wollen, in Trümmern lag. Ein Wiederaufbau stand wohl auch nie zu Diskussion. Zeitlich passt das gut zu den Erinnerungen von Hans-Jakob Wittwer (1935–20217), des jüngsten Sohns von Hans und Jula Wittwer-Rieder, der nach eigenem Zeugnis vom gemeinsamen Anschauen alter Pläne und Unterlagen nichts mitbekommen hatte und deshalb unter dem Eindruck stand, sie, die drei Söhne von Hans Wittwer, hätten von der beruflichen Vergangenheit ihres Vaters gar nichts gewusst. Es bedurfte jedoch auch eines Besuchs bei der gta, um bei meinem Vater die Erinnerungen an die Stunden wieder zu wecken, in denen ihm der Vater seine Überlegungen und Entscheide beim Entwerfen seiner Bauten darlegte.

 

Im Familienkreis wurde Hans Wittwer entweder «Bappeli» (=Väterchen) oder «Gletzli» genannt. Das Wort «Gletzli» kann zwei Bedeutungen haben. Zunächst bedeutet es «kleine Glatze», offenbar neigte Hans Wittwer schon früh zum Kahlwerden. Da im Basler Dialekt das «K» vor einem Konsonanten weich, also wie ein «G» ausgesprochen wird, kann mit «Gletzli» aber auch ein kleines Klötzchen gemeint sein, wohl in Anspielung an die von ihm bevorzugte und aktiv geförderte Architektur, in der keine herkömmlichen, mit Ziegeln oder Schindeln gedeckten Dächern Verwendung fanden. 

 

Auch in der Zeit, in der Hans Wittwer selbst nicht mehr als Architekt tätig war, blieb sein Interesse an der Architektur wach. Wenn er mit seinen Söhnen unterwegs war, wies er sie immer wieder auf einzelne architektonische Details. Ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung von Architektur war in seinen Augen die Lichtführung. So ärgerte er sich etwa über Vordächer, die Schatten warfen auf darunterliegende Türen oder Fenster. An neuen Bauten interessierte er sich vor allem dafür, ob und wie sie sich in ihre historische Umgebung einfügten. So kritisierte er an Neubauten, die auf beiden Seiten an ältere Bauwerke angrenzten, dass sie in ihrer Fassadengliederung keine Rücksicht nahmen auf Geschosshöhe und Fassadeneinteilung der links und rechts von ihnen stehenden Gebäude. An einem in den frühen 1940er Jahren entstandenen öffentlichen Gebäude störte ihn, dass es die vor ihm liegende Zeile mit mittelalterlichen oder barocken Häusern unschön überragte. 

 

Es wurde nicht viel über den Grossvater in der Familie gesprochen und dennoch schien er irgendwie immer ein bisschen präsent zu sein. Vielleicht weil in den vier Wänden meiner Grossmutter, die ihn um mehr als fünf Jahrzehnte überlebte, zahlreiche Zeugen an ihn erinnerten. Kunstwerke, die wie die Möbel und Gebrauchsgegenstände aus der Zeit am Bauhaus oder an der Burg stammten – viele von der Hand der mit ihm und seiner Frau befreundeten Künstlerinnen und Künstlern – und das eine oder andere Aquarell, das Hans Wittwer auf seinen Reisen in England und Schottland, in der von ihm so geschätzten Landschaft rund um Halle oder in der Schweiz gemalt hatte. Aus den Erzählungen meines Vaters erfuhr ich auch, dass sein Vater von einer fast grenzenlosen Gutmütigkeit und Nachsicht gewesen sei. Selbst wenn es im Haushalt mit den drei heranwachsenden Buben laut wurde und ihr Übermut dabei war, in Mutwillen umzuschlagen, blieb er inmitten des Tumults vollkommen ruhig auf seine jeweilige Beschäftigung konzentriert und schien von dem Krach um ihn herum nichts merken. Es bedurfte dann eines mahnenden Worts seiner Frau, damit er ein Machtwort sprach und seine drei Söhne zur Räson brachte. Dennoch muss er auf seine Weise dezidiert gewesen sein, seine Vorstellungen wurden respektiert und seine Pläne ausgeführt, auch wenn sie der Familie Einiges abverlangten. Dies zeigte sich sehr deutlich bei ihren Ferien oder Ausflügen. Hans Wittwer hatte in jungen Jahren die allgemeine Begeisterung seiner Generation für die Berge und den im Entstehen begriffenen Wintersport geteilt. Als seine drei Söhne heranwuchsen, blieb dieses Interesse an den Bergen zwar wach, nun wurden aber auch viele Ausflüge in den Schweizer Jura unternommen, der von Basel aus einfacher und schneller zu erreichen war. Besonders die Gegend um den Bielersee hatte es Hans Wittwer angetan. Die Isolation der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs machte es auch nicht möglich, ins nahe Elsass oder Markgräflerland zu reisen, so blieb der Aktionsradius auf die Schweiz und auf die nähere Umgebung von Basel beschränkt. 

Mein Vater erwähnte einmal, dass ihre Ferien und Ausflüge eigentliche Bildungsreisen waren. Hans Wittwer war es ein Anliegen, seinen drei Söhnen die Schweiz nahezubringen und ihre Kenntnisse des Landes zu erweitern. Die Reisen wurden stets mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen und führten – eine Eigenheit, die immer wieder zur Sprache kam – nicht direkt zum Ziel, sondern stets über verschiedene Haupt- und Nebenlinien und waren darum mit häufigem Umsteigen verbunden. Es klappte immer tadellos, die Anschlüsse wurden erreicht, denn die gesamte Reise war mit Hilfe eines Fahrplans minutiös geplant worden. Zu den einzelnen Bahnstrecken gab es jeweils Auskünfte von ihrem Vater, und auch über die Orte oder Gegenden, an denen sie vorbeifuhren oder an denen sie umstiegen, erzählte er ihnen viel Wissenswertes. So wurden auch nicht sehr weit entfernte Ziele erst nach einer längeren Fahrt erreicht. Einmal war es sogar schon dunkel, als sie endlich an ihrem Bestimmungsort, irgendeinem kleinen Häuschen, eintrafen. Umso grösser war die Überraschung, als sie am nächsten Morgen die Läden öffneten und feststellten, dass ihr anscheinend so unspektakuläres Nachtquartiert am Ufer eines Sees lag und die aufgehende Sonne direkt in ihre Stube schien. 

 

Lebhafte Erinnerung verbindet mein Vater mit ihren Ferien in Lauenen. Drei Mal, 1943, 1947 und 1948, verbrachten sie ein paar Tage im Maiensäss einer Familie, die für den Sommer auf ihre Alp zog. Das Haus war ihnen von einem Verein vermittelt worden, der es Familien aus den Städten ermöglichte, für wenig Geld in saisonal leerstehenden Häusern von Bergbauern Ferien zu machen. Besonders eingeprägt hatte sich vor allem einer ihrer drei Aufenthalte im damals noch recht abgelegenen Dorf des Berner Oberlands. Die Anreise erfolgte wiederum über mehrere Etappen. Die erste führte mit dem Schnellzug von Basel nach Bern, wo sie in einen Zug nach Fribourg (Freiburg im Üechtland) umstiegen. Hier besichtigten sie die Stadt und nahmen in einem Park ein zu Hause vorbereitetes Picknick zu sich. Auch das war eine Eigenheit Hans Wittwers, die mein Vater mehrfach erwähnte: sein Vater machte einen Bogen um alle Gaststätten. Mahlzeiten wurden entweder zu Hause oder im Freien, nie aber in einem Wirtshaus eingenommen. Nach der Besichtigung von Fribourg schloss sich eine Fahrt im Postauto nach Bulle an, die eigens unternommen wurde, um der Familie das Saanetal mit seinen charakteristischen Windungen des Flüsschens zu zeigen. In Bulle wechselten sie wieder auf die Schiene und bestiegen eine Schmalspurbahn, die sie über Château d’Oex nach Gstaad brachte. Hier kletterte die Reisegruppe, die nun doch langsam müde war, da sie auch einiges an Gepäck auf sich trug (die schweren Koffer waren auf direktem Weg über Bern und Spiez von der Bahn spediert worden), noch einmal in ein Postauto und erreichte spät am Nachmittag endlich ihren Bestimmungsort, das idyllisch gelegene Lauenen, wo sie ihren Ferienwoche im Maiensäss verbrachten. 

 

Hans Wittwer hatte für die gemeinsam verbrachten Ferien einen Rhythmus aus «Arbeit» und «freien Tagen» eingeführt. An ihren Arbeitstagen kauften sie ein, arbeiteten im Haus und lasen etwas, ihre Ausflüge und Wanderungen unternahmen sie an ihren «freien» Tagen. Auf ihren Wanderungen bewegten sie sich meist frei im Gelände und nur selten auf (häufig begangenen) Wegen. Am liebsten stellte sich Hans Wittwer mit Hilfe von Landkarten selbst eine Route zusammen, fragte aber gerne noch die Einheimischen, ob die von ihm geplante Tour auch durchzuführen war. Er vermied es jedoch, direkt auf den Gegenstand seines eigentlichen Interesses zu kommen. Stattdessen begann er mit einer Plauderei, die sich zunächst um ganz allgemeine Dinge drehte, um das Wetter oder die Ernte, fragte Bauern und Sennen auch nach ihren Tieren und lenkte erst nach und nach das Gespräch auf die Fragen, die ihn interessierten; wie sicher das Gelände war, wie lang sie unterwegs sein würden, ob noch Schnee lag etc. Bei der Planung einer Wanderung von Lauenen über den Sanetschpass nach Sion zog Hans Wittwer wiederum auf seine systematische Art Erkundigungen ein. Meinem Vater blieben sie in besonderer Erinnerung, weil einer der befragten Einheimischen auf die Frage nach der Begehbarkeit des Terrains eher ausweichend antwortet, sichtlich nervös wurde und immer wieder die drei Söhne in Augenschein nahm, vor allem den jüngsten, der damals erst 8 Jahre alt war. Die Tour wurde dann nicht unternommen, weil das Wetter umschlug. Bei einem ihrer späteren Aufenthalte unternahmen sie dann die Wanderung am letzten Tag, die Koffer brachten sie zuvor ins Dorf, um sie per Post und Bahn nach Hause zu schicken und machten sich schliesslich mit ihren Rucksäcken auf den Weg nach Sion im Wallis und fuhren von dort nach Basel zurück. 

 

Auf ihren Touren wurde viel botanisiert, allerdings eher unter der Anleitung der Mutter als des Vaters. Hans Wittwer erklärte ihnen vor allem die Geografie, geologische Formationen oder Phänomene der Natur. So gab es einmal detaillierte Erläuterungen, als sie auf einer Wanderung von Lauenen aus Zeugen wurden, wie ein grösseres Stück Eis von einem Gletscher abbrach. Er wies auf einen Felsen, der sich neben dem Eisfeld in der Nähe der Bruchstelle befand, erklärte, dass der Stein sich in der Sonne erwärme und dadurch das Eis an dieser Stelle zum Schmelzen bringe, bis es so dünn sei, dass es breche. Er erwähnte auch, dass der Vorgang bei den Glaziologen «kalben» genannt wurde und machte eine Aufnahme mit ihrem Fotoapparat. 

 

Hans Wittwer achtete auch während der Ferien sehr auf die Interessen und Wünsche seiner drei Söhne. So half er seinem Jüngsten, ein Segelboot nach dem Vorbild von Nansens Fram zu bauen, und trug das Schifflein den Berg hinauf, wo es in einem kleinen See mit gesetzten Segeln die Jungfernfahrt antreten konnte. Für seinen Ältesten dachte er sich etwas Anderes aus. Nach dem Vorbild damaliger Gipfelstürmer brachen sie zur Besteigung des Arpelistocks noch bei voller Dunkelheit auf und legten den ersten Teil des Aufstiegs im Schein einer Laterne zurück, in der eine Kerze brannte. Da das Finden und das Ausleuchten des Wegs viel Konzentration verlangten, wechselten sie sich ab, wer vorausging, trug die Laterne. Als sie dann auf dem Arpelistock angekommen waren, packte Hans Wittwer einen Kocher aus und kochte eine Suppe. Sie hätten sich wohl auch ohne künstliches Licht orientieren können und ein kaltes Picknick hätte sie auch gestärkt, aber Laterne, Kocher und Suppe gaben ihrer nur zu zweit unternommen Tour einen Anstrich von Abenteuer und Romantik, Hans Wittwer wollte damit seinem Ältesten eine Freude machen. Um 15.00 Uhr waren sie dann wieder zu Hause im Maiensäss. 

 

Der Ort, an dem sie auf ihren Ausflügen und Wanderungen rasteten, wurde von der Aussicht bestimmt, die sich von ihm bot. Wenn sich langsam der Hunger meldete oder die Mittagszeit näher rückte, blieb Hans Wittwer einfach stehen und sagte, hier rasten wir. Die ganze Familie liess sich dann nieder, ein mit Benzin oder Metatabletten betriebener Kocher wurde aufgestellt und eine Suppe oder ein Tee zubereitet. Eine warme Mahlzeit oder mindestens ein warmes Getränk gehörten einfach dazu. Nach dem Essen packte Hans Wittwer seine Malutensilien aus, einen Skizzenblock und einen Aquarellkasten, skizzierte mit ein paar wenigen Bleistiftstrichen die Landschaft und malte ein Bild.